Entwicklung des ÖPNV im Kreis Wesel – gibt’s die?

Eine Zwischenbilanz zur Verkehrswende in Sonsbeck und am Niederrhein

| Die Einschläge kommen näher: Je länger über das geringe Tempo bei der Verkehrswende in Deutschland gestritten wird, desto kürzer sind die Abstände, in denen Katastrophenmeldungen zu Klimaereignissen bei uns eintreffen. Welchen Stand hat die Transformation bei uns im Kreis Wesel heute? Dazu ein Zwischenbericht mit Ausblick.

Wer den toten Punkt benennen will, eine „Stunde Null“, von der aus man die Verkehrssituation im Kreis Wesel beschreiben will, der muss zurück in das Jahr 2005 gehen, als der Kreis Wesel mit den Stimmen von CDU und SPD beschloss, die NIAG aus Moers, die mit ihren Linienbussen hohe Verluste eingefahren hatte, an einen privatwirtschaftlichen Konzern zu verkaufen. Dieser Schritt, den die kommunalen Verwaltungen seinerzeit lobten, zog gravierende Folgen nach sich: Das miese Fahrtenangebot wurde zu komplizierten und teuren Tarifen weiter reduziert (so z.B. die Einstellung der Buslinie 39 Sonsbeck-Alpen-Kamp=Lintfort), die politische Verantwortung für den Nahverkehr weitestgehend an einen privaten Konzern outgesourct, während das schwierige Verkehrsgebiet im Kreis Wesel, das städtische wie ländliche Räume sein eigen nennt und das zusätzlich vom Rhein mit nur einer Brücke in zwei Hälften zerschnitten wird, mit einem beispiellosen Bahnstreckensterben konfrontiert war. Die seinerzeit zuständige Bundesbahndirektion Köln hatte im Zuge der Massenmotorisierung in den 60ern bis 80ern aus dem Niederrhein ein unattraktives Sackgassensystem mit alter, maroder Technik gemacht, in denen wichtige Zwischenstücke herausgeschnitten worden waren und der Rest nur noch dann funktionierte, wenn die Sonne im 60-Grad-Winkel stand, der Wind aus Südwest kam, die Bahnübergänge bei der Physiotherapie gewesen und die ausübenden Lokführer und Stellwerker im gleichen Sternkreiszeichen geboren worden waren. Die Bushaltestellen, nackte Pinne gen Himmel weisend, standen ziellos in der Prärie wie Kreuzwegstationen, an denen mehr Wallfahrtsgruppen vorbeiliefen als Busse hielten. Genau hier hatte die Verkehrswende zu beginnen. Und sie hat längst begonnen.

VGN und VRR (Verkehrsverbund Rhein-Ruhr): Der Tarifdschungel lichtet sich

Bis zum 31.12.2011 brauchte man streng genommen zwei Fahrkarten, um von Wesel nach Duisburg zu kommen: Eine für den alten VGN-Gemeinschaftstarif bis Dinslaken und weiter mit dem VRR-Tarif bis Duisburg. Dieser Tarifdschungel lichtete sich etwas, als ab 2012 der VRR-Tarif bis Emmerich ausgeweitet wurde. Bus und Bahn aber blieben sündhaft teuer, trotz Einführung des Sozialtickets für Hartz-IV-Empfänger, daran änderte auch das digitale Ticketing über Smartphone-Apps wenig. Dafür wurden die Eltern zur Kasse gebeten, weil mit dem VRR-Tarif auch das Schokoticket, die Schülerfahrkarte, mit 12€ monatlich eingeführt wurde. Was der VRR als Solidarmodell anpries, rief bei den Landschülern heftiges Kopfschütteln hervor, da sie nun erstmals zur Kasse gebeten wurden, obwohl über den Schülerverkehr hinaus vielfach gar kein Fahrtenangebot vorhanden war. Denn eines ist ja klar: Busverkehr auf dem Land war fast immer ausschließlich Schülerbusverkehr, und darum drehte sich auch finanziell immer alles, bis zum heutigen Tag. Erst das Deutschlandticket, eingeführt ab 1. Mai 2023, wird den großen, einfachen und bezahlbaren Wurf für (fast) alle bringen. Die Auseinandersetzungen, die der Kreis mit dem VRR nach der Jahrtausendwende zu führen hatte, trug – aus heutiger Sicht gesehen – gute Früchte: Man redet miteinander, kennt die Interessen – und findet heute in regelmäßigen Gesprächen ganz praktisch zueinander, im NVN, dem Zweckverband „Nahverkehr Niederrhein“.

Technik aus der Kaiserzeit

Das Wort „Sanierungsstau“ bei der Bahn kennt jeder – aber was heißt das genau? Das heißt: Stellwerke von 1911, wo die DB schon mal vier Monate braucht, um ein Signal zu reparieren; unbeschrankte Gefahrenpunkte mit zeit- und energieintensiven Langsamfahrstellen, Diesel, diskriminierende Bahnsteighöhen und absurd kurze Wendezeiten an den Endbahnhöfen, nachrangige Behandlung der Züge an den Engstellen rund um Duisburg, verkürzte Laufwege und Ausfälle aufgrund hoher Verspätungen, Weichenstörungen, Gleisbrüche, und, und, und. Der Stoff, aus dem die täglichen Katastrophen gemacht sind, scheinen nicht wert, sie im Radio ständig zu erwähnen, neben den Echtzeit-Apps, die zu schlecht sind, um all diese Störungen eins zu eins kommunizieren zu können. Spätestens mit Einrichtung des kreiseigenen Mobilitätsausschusses im Jahr 2020 legen VRR und Kommunalpolitik der DB Netz ihren Finger fast täglich in die Wunde, stets erwidert mit den janusköpfigen Ausflüchten, dass für den SPNV ja das Land zuständig sei, wohl wissend, dass die Schiene ja dem Bund gehört. Egal, ob es nach Kamp-Lintfort, Neukirchen-Vluyn, nach Walsum oder nach Krefeld gehen soll, überall scheint man der Verkehrswende große Steine ins Schotterbett zu legen, die wie Bremsschuhe alle Entwicklung lähmen.

Vitamin Bund

Es sind Bundestagsabgeordnete in Berlin, die der abgehalfterten Strecke Krefeld-Kleve ins „Schnellläuferprogramm“ verhelfen. Ende 2022 ist die Digitalisierung dort abgeschlossen, dennoch herrscht wochenlang Chaos, bis es endlich klappt. Andere Orte, die keine prominenten Fürsprecher haben, müssen sich hinten anstellen: Neukirchen-Vluyn, Moers, Xanten, Wesel. Immerhin gelingt 2022 die Elektrifizierung nach Bocholt, 35 km Draht geradeaus in elf Jahren Planungs- und Bauzeit, mitten in einer für Pendler und Bewohner gleichermaßen belastenden dreigleisigen Ausbauphase der hoffnungslos unterfinanzierten Magistrale Emmerich-Oberhausen. Nur ein gemeinsamer, jahrelanger Aufschrei aus Bürgerinitiativen, Feuerwehren, Kommunal- und Kreispolitikern konnte verhindern, dass die Bundesplanungen für die Betuwe in einem Fiasko für die anliegenden Dörfer und Städte endeten.

Warum die Bürgerbusvereine für den Niederrhein wichtig sind

Während die schienengebundene Infrastruktur weiter vor sich hin rostet, hat sich auf den Dörfern längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass Mobilität im Gemeinsinn preiswerter zu haben ist als das ständige Herumfahren auf eigene Faust. Frucht dieser Erkenntnis sind die Bürgerbusvereine, die vom ehrenamtlichen Engagement der zahlreichen Bürgerbusfahrerinnen und –fahrer getragen werden. Er ist auch deshalb seit den 80er Jahren ein Erfolgsmodell, weil er die Daseinsvorsorge lebt und das Bewusstsein dafür geschärft hat: Niemand soll alleingelassen werden, schon gar nicht im Alter. Der Bürgerbus fügt dem notwendigen Umweltschutz im Verkehr die soziale Dimension hinzu und verdient daher einen besonderen Schutz.

Corona, Elektro- und X-Busse: Ein niederrheinisches Regionalbusnetz entsteht

Um Schaden von der Bevölkerung abzuwenden, erklärte die Bundesregierung zu Beginn der Corona-Pandemie 2020 den ÖPNV zur höchsten Gefahrenzone und bescherte damit der Verkehrswirtschaft allein im VRR dreistellige Millionenbeträge Verlust. Mit dieser ultraschlechten Nachricht galt die Wiedereinführung der ÖPNV-Umlage als gesetzt, weil sich bald herausstellte, das Bund und Land die entstandenen Verluste nur teilweise ausgleichen würden, zumal das Vertrauen in Bus und Bahn durch Corona gerade bei den Senioren stark erschüttert worden war. Und weil schon in den Jahren zuvor die Klimadiskussion durch „Fridays for Future“ endlich mehr Gewicht bekommen hatte, entschieden sich Kreistag und Verwaltung dazu, diese neue, alte Umlage zusätzlich mit einem Klimaticket zu versehen, das die Umwandlung aller Linienbusse auf Elektroantrieb bis 2030 vorsieht. Auch das Land NRW bemüht sich inzwischen um eine stärkere Fokussierung auf den Land-ÖPNV und legt mit den X-Bussen ein Förderprogramm auf, von dem gerade die Kreise Wesel und Kleve stark profitieren, weil nun endlich die alten Lücken an sieben Tagen die Woche zügig geschlossen werden können, so in 2023 schon zwischen Goch, Xanten, Wesel und Schermbeck, Kalkar, Kleve und Rees. Weitere werden folgen, so z.B. Kevelaer-Sonsbeck-Xanten, Wesel-Rheinberg-Moers und Kamp-Lintfort, Dinslaken-Hünxe-Schermbeck-Borken, sowie Moers–Duisburg=Nord, um nur einige zu nennen. Der Kreis bereitet im künftigen Nahverkehrsplan zusätzlich Expressbusverbindungen zu den Spitzenzeiten des Verkehrs vor. Beide Landkreise beginnen derzeit mit dem Aufbau von Kleinbussen auf Anforderung (On Demand); Stadtbusverkehre wie derzeit in Xanten sind auch Dinslaken und Wesel in Vorbereitung.

Die Umkehr der Menschen vom Auto zu Rad, Bus und Bahn

All das wird freilich seine klimaschonende Wirkung erst dann voll entfalten, wenn endlich mehr Menschen am Niederrhein und in Deutschland bereit sind, ihr Auto stehen zu lassen und die Öffis zu nutzen. In Alpen kommen auf 1000 Einwohner 800 Autos, und in Sonsbeck und Hünxe sieht es nicht besser aus. Die täglichen Staus und die Energiekrise haben wohl viele Bürger dahin gebracht, diesen Zustand nicht mehr normal zu finden, aber das verlässliche Netz, das es zum Umstieg bräuchte, ist immer noch im Aufbau. Das Deutschland-Ticket ist zwar der richtige Wegweiser aus dieser Krise, aber der gewiesene Weg ist immer noch sehr holprig. Dazu braucht es auf Landesebene endlich eine beherzte Task-Force in Sachen Radwegeausbau; gerade die Landesstraßen begleitenden Radwege sind in einem erbärmlichen Zustand, und die Planung der Radschnellwege geht viel zu schleppend voran. Mit Recht spornt der Kreis die Kommunen an, Mobilstationen, Fahrradboxen, Ladepunkte, Verleihstationen zügig zu verwirklichen und zu vernetzen. Hier stehen wir leider immer noch am Anfang, weil in den Verwaltungen vielfach die (Wo-)Manpower fehlt, die Projekte auch umzusetzen. Fachkräftemangel allüberall.

Zu spät?

Die von der „Last Generation“ vorgetragene Kritik, dass die Transformationsprozesse im Verkehr viel zu spät eingesetzt haben und insbesondere in diesem Sektor viel zu lange dauern, ist unbezweifelbar historisch richtig und darf nicht wegdiskutiert werden. Aber gerade diese Erkenntnis sollte uns nicht davon abbringen, fortzufahren mit dem, was schon vor vielen Jahren, 1980, mit der Gründung des VRR begonnen hat: Das Zusammenwachsen der öffentlichen Verkehrsträger mit den Bürgerinnen und Bürgern zu dem Zweck, Mobilitätsbedürfnisse umweltgerecht zu bündeln, zu erleichtern, bezahlbar zu machen – 1 Ticket für alles. Ob diese ganzen Bemühungen uns angesichts einer immer noch starken, PS-verliebten, fossilen Antiklimalobby und angesichts der zunehmenden (Klima-)Konflikte retten werden, kann keiner garantieren. Sich ihnen aber mit aller Kraft entgegenzustellen, mit einer anderen, klimafreundlichen Mobilität, einer Alternative, die dieses Wort wirklich verdient, halte ich für einen Ausdruck des Glaubens, dass die Menschen am Niederrhein den Kampf um den Erhalt ihrer Lebensgrundlagen noch nicht aufgegeben haben und auch niemals aufgeben werden.

Autor: Lukas Aster, Verkehrspolitischer Sprecher der Kreisfraktion Wesel B‘90/Grüne, Mitglied im          NVN